Es ist Sonntag Morgen, der Wecker klingelt pünktlich um 4:45 Uhr. 4. Advent, ich stehe auf, beginne gemeinsam mit meinem Mann unseren Tagdienst, nahtlos nachdem ich die Nacht übernommen hatte. Sechs Nächte in Folge ist jetzt keine Pflegekraft bei uns, 20 Tage lang sehen wir tagsüber niemanden. Als Arbeitnehmerin musste ich früher entweder Weihnachten ODER Silvester arbeiten, als pflegende Eltern pflegen wir immer. Pflegekräftemangel. Vor den ersten Medikamenten wechseln wir noch den Gastrotube. Wir sind routiniert, jeder Handgriff sitzt. Dank Olivenöl, das ich schon kurz nach dem Aufstehen rund ums Stoma großzügig verteilt hatte, flutscht der alte fast raus, der neue sitzt sofort, die Hummel musste nicht mal schimpfen.

Während mein Mann mit ihr inhaliert, kümmere ich mich um den Therapiestuhl. Den hatte ich gestern Abend noch gründlichst reinigen, die Bezüge waschen müssen. Der Gastrotube war kaputt gegangen und hat auf Kind und Sitzschale eine großzügige Sauerei hinterlassen. Dafür sind Nachtdienste praktisch: Man ist ohnehin wach und es macht nichts, bis nach zehn am Abend zu waschen, zu trocknen, zu putzen und Böden zu wischen.

Kurz nach sechs ist die Prinzessin durchbewegt, ich hab den ersten Tritt in der Magengrube. Ich hatte noch keinen Kaffee, ist also nicht schlimm. Viertel nach acht haben wir alle gefrühstückt und sind gewaschen und angezogen, die Hummel ausgesaugt. Ich hab bereits eine halbe Stunde Gebrüll ertragen und ignoriere die Schmerzen in meiner Hand.

Nein, wir wissen nicht, ob sie einfach pubertiert, ob das Auswirkungen der Medikamentenumstellung sind oder ob sie doch vielleicht irgendeinen Schmerz hat oder einfach Gemütsschwankungen. Und nein, dieses Geschrei ist nicht vergleichbar mit einer nicht körperlich und kognitiv schwer beeinträchtigten 15jährigen. Das hier ist das Gebrüll eines Säuglings im 16. Jahr.

Bis Mittag habe ich drei Maschinen Wäsche gewaschen, getrocknet und gefaltet – auch da hilft der Nachtdienst und außerdem sind elf Portionen Mittagessen gekocht und püriert. Meine steifen Finger ignoriere ich, keine Zeit für Arthrose. Der Systemwechsel vom Highflow ist erledigt, da wechsle ich mit einer Selbstverständlichkeit Zubehörteile aus, von denen nicht mal alle pflegenden Eltern den Sinn kennen. Ich versuche nicht darüber nachzudenken, wie viel Plastikmüll ich grade wieder produziere. Aber weniger geht nicht, wegen der Verkeimung. Außer während Corona, da konnte man alles doppelt so lang ohne Probleme nutzen. Lieferengpässe sind wichtiger als Hygienevorschriften.

Vor dem Mittagessen sind noch Abrechnungen und Mails erledigt und nach dem Mittagessen schmücke ich den Christbaum. Weihnachtsstimmung will nicht aufkommen, es ist nicht sehr stad, das Wetter ist trüb, mein Knie schmerzt bei jeder Treppe rauf und Treppe runter, aber ich hab keine Zeit für ein schmerzendes Knie, ich ignoriere das.

Die neue Badeliege ist noch nicht optimal auf die Bedürfnisse unserer Hummel ausgerichtet, aber ein Bad ist am Abend fällig. Wieder fange ich mir Tritte und Gebrüll ein, meine Rückenschmerzen muss ich ignorieren. Mein Körper nervt mich langsam. Es ist, als wollte er mir sagen „drei Jahre hieß es, ich hab eh schon länger ausgehalten“, aber das darf er nicht laut sagen.

15 Jahre bin ich Mutter ohne ein einziges Mal das Wort „Mama“ gehört zu haben. Manchmal frage ich mich, ob ich da überhaupt eine richtige Mutter bin oder nur so ein pflegender Mutterersatz. Nein, es gibt hier kein Strahlen, das alle Anstrengung und Entbehrungen wett macht. Wenn ich Glück habe, erfahre ich an manchem Tag im Büro mehr freundliche Worte und mehr Umarmung als in einem halben Jahr zu Hause. Statt Armen, die sich nach mir ausstrecken, Ablehnung, statt Freude im Gesicht, Wut aus jeder Pore. Trotzdem liebe ich meine Tochter heiß und innig.

Der Christbaum steht, aber ich werde nicht auf strahlende Kinderaugen warten. Bei uns ist Weihnachten eher dann erfolgreich, wenn wir ohne Bedarfsmedikamente und ohne Sauerstoffbedarf ohne Zwischenfälle Geschenke auswickeln und unseren Tagesablauf einigermaßen einhalten konnten. Wir haben keine Möglichkeit, große Ausnahmen zuzulassen. Medikamente, Nahrung, Inhalation, alles muss immer rechtzeitig verabreicht sein, die Zeitfenster sind eng. Nur an zwei Weihnachten kann ich mich erinnern, an denen ich den Eindruck hatte, die Hummel bekommt bewusst mit, dass der Tag besonders ist, dass sie Geschenke bekommt und dass sie es genießen konnte. Meist lässt sie alles eher irgendwie über sich ergehen, da muss man schon selbst betont fröhlich sein, um das nicht zu schwer zu nehmen.

Keine Christmette, kein gemütliches Beisammensitzen, denn ich werde wieder Nachtdienst haben wie jedes Jahr. Früher war ich oft sehr gerührt in der Weihnachtsnacht, häufig war die Hummel krank, in einem Jahr haben wir Weihnachten, Silvester und Dreikönig auf der Intensivstation verbracht. Das prägt, das vergisst man nie wieder. Neun Jahre ist das her und da wusste ich an Heilig Abend nicht, ob wir zu Dritt das Krankenhaus verlassen. Seit neun Jahren kommen auch diese Erinnerungen pünktlich wieder. Früher hab ich oft ein paar Tränen verdrückt in der Weihnachtsnacht, das passiert kaum noch. Ich weine insgesamt nur noch sehr selten. Wenn es passiert, ist es heftig, aber meist bin ich schon abgestumpft. Ist besser so. Denken einstellen und funktionieren ist meine Devise, alles andere würde grad nicht mehr funktionieren.

Ich bete, dass mein Körper das noch lange durchhält, ich lade die Noise Cancelling Kopfhörer regelmäßig auf, damit ich durch die Pflege komme. Manchmal singe ich ganz laut, in diesem Jahr allerdings nicht mal Weihnachtslieder wie sonst, mir war wohl nicht danach und es fällt mir erst jetzt, als ich diese Zeilen schreibe, überhaupt auf. Ich glaub das wird heuer nix mehr mit einer fröhlichen Weihnacht. Macht nichts, ich mach weiter in dem Bewusstsein I will survive.

Von Veröffentlicht: 24. Dezember 2025Kategorien: Mamas Welt